Eine meiner liebsten Stellen aus “ Briefe an einen jungen Dichter“ von Rilke nutze ich normalerweise, um Schülern – und mir selbst natürlich – das Prozesshafte im Erlernen einer Kunst wie dem Singen oder der Alexander-Technik begreiflich zu machen. Es kommt hin und wieder eine Frage auf, die ich dem Schüler zu dem Zeitpunkt schlichtweg nicht beantworten kann, weil sie zu früh im Prozess gestellt wird und er deshalb mit der Antwort nichts anfangen könnte. Ein paar Monate oder bereits Wochen später kann es ganz anders aussehen oder die Frage hat sich in der Zwischenzeit längst erledigt.
Mir kam der Gedanke, dass mir jene Zeilen vielleicht auch in diesen unübersichtlichen Tagen helfen könnten. Im Außen gibt es derzeit so vieles Ungelöste in alle Richtungen, dass eine große Zahl von Menschen weltweit im Inneren wie im Äußeren nach Antworten sucht. Wer weiß, vielleicht verhält es sich mit der Suche nach diesen Antworten genauso, wie mit der des jungen Dichters. Deshalb werde ich mich bemühen, Rilkes Rat zu befolgen und meine Fragen selbst lieb zu haben und zu leben.
„…ich möchte Sie…bitten…Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“