Vor kurzem kam mir der Gedanke, wie es wohl wäre, wenn Muskelaufbau oder Koordinationsübungen Geräusche erzeugen würden. Ein schlecht trainierter Muskel beispielsweise unästhetische, schrille oder kratzige Klänge von sich gäbe und ein perfekt koordinierter Körper traumhaft schön klänge. Ich gebe zu, ein komischer Gedanke, mal ganz abgesehen davon, dass es das Trainieren in Fitnessstudios höchstwahrscheinlich unerträglich machen würde.
Wenn man sich unterschiedliche stimmliche Entwicklungsstufen anhört, wird das Bild vielleicht verständlicher. Kein Mensch würde es anzweifeln, dass ein trainierter, wohl koordinierter Körper ansprechender aussieht als einer, der es nicht ist. Und niemand würde der Tatsache widersprechen, dass der Weg dorthin ein Prozess ist, der Fleiß und Zeit verlangt. Wenn aber ein im Singen völlig ungeübter Mensch seine ersten Töne von sich gibt, wird er häufig zutiefst unglücklich darüber sein, wie seine Stimme klingt. Dass die Qualität des Klanges nur etwas mit dem Entwicklungsstand und keineswegs mit der potenziellen Qualität seiner Stimme zu tun hat, kommt ihm selten in den Sinn. Mit der Stimme verhält es sich aber genauso wie mit dem restlichen Körper. Je besser ihr Zustand ist, desto besser wird sie klingen. Leider wurde vielen Menschen schon in der Kindheit weisgemacht, dass ihre Stimme nicht gut sei oder gar schrecklich klänge. Anstatt das Kind aber zum Singen zu ermutigen und damit die Stimme natürlich zu schulen, heißt es die Begabung fehle und dabei bleibt es dann. Sicherlich, es gibt von Natur aus sehr begabte Menschen, stimmlich ebenso wie sportlich, sprachlich oder mathematisch. Das heißt aber doch nicht, dass ein sprachlich weniger grundbegabter Mensch nicht in der Lage ist, Sprachen zu erlernen und sie hervorragend zu beherrschen.
Das Gemeine mit der Stimme ist es, dass wir alles hören, was die Stimme während des Trainings macht. Wenn wir ein Gewicht mit Ach und Krach gehoben bekommen, oder das Gleichgewicht auf einem Bein stehend nicht halten können, werden wir uns nicht automatisch abwerten oder verurteilen. Wir erlernen gerade eine Fähigkeit und das braucht eben Zeit. Da Sänger und Stimme aber als eine Einheit empfunden werden, sind unsere Ohren häufig grausame und höchst subjektive Richter. Und so tun wir im Unterbewusstsein vieles, um schon im Vorhinein den Klang zu verschönern, was dem wirklichen Prozess wiederum im Wege steht. Dieses Problem kennen nicht nur Laien, sondern auch viele Profis. Wir alle wollen schön klingen.
Vielleicht wäre es für uns Singende eine gute Idee, mehr Abstand zu unserer Stimme zu gewinnen. So könnten wir das Singen als eine zu erlernende Fähigkeit betrachten, die nichts mit unserer potenziellen Schönheit als Sänger oder Mensch zu tun hat. Das würde den Weg zu eben dieser Schönheit sehr erleichtern.